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Vortrag: Das Schicksal des Stolberger Stadtarchivs nach der Flutkatastrophe von 2021

von Christian Altena

Archivarin Nicole Brillo aus Aachen und Stadtarchivar Christan Altena verschaffen sich einen ersten Überblick.Foto: Hanna Scherr Archivarin Nicole Brillo aus Aachen und Stadtarchivar Christan Altena verschaffen sich einen ersten Überblick.Foto: Hanna Scherr

Am Donnerstag, dem 20. Oktober 2022 sprach im Rahmen der regelmäßigen Vortragsreihe vor Mitgliedern und Gästen des Bürger- und Geschichtsvereins Hahn und Friesenrath e.V. der Stolberger Stadtarchivar Christian Altena über das Schicksal des Stolberger Stadtarchivs nach der Flutkatastrophe von 2021. Altena, seit 2015 Leiter des Stolberger Stadtarchivs, erlebte zusammen mit einer Handvoll seiner Mitarbeiter die Überflutung des ihm anvertrauten Archivs unmittelbar in all ihren Phasen. Anhand seiner damals während der Katastrophe immer wieder mit dem Mobiltelefon aufgenommenen Schnappschüsse erzählte er lebhaft von den dramatischen Tagen des 14. Juli 2021 und der Tage danach: Von dem vergeblichen Versuch, die umfangreichen Bestände des Archivs im Keller des alten Stolberger Rathauses am Kaiserplatz zunächst vor den rasend schnell ansteigenden Schlammfluten der Vicht zu retten, und von der von mehreren hundert freiwilligen Helfern, der Feuerwehr, dem THW und der Bundeswehr unterstützten zeitkritischen Bergung des Archivgutes aus den bis zur Kellerdecke überschwemmten Archivmagazinen des alten Stolberger Rathauses.

Das Stolberger Rathaus war bereits geräumt, ein Krisenzentrum in der Stolberger Feuerwache auf Münsterbusch bereits eingerichtet, als am Nachmittag des 14. Juli zunächst durch die Lüftungsöffnungen des Gebäudes und später auch durch die berstenden Fenster sich die schlammigen Fluten des Hochwassers der Vicht den Weg in die Archivmagazine suchte. Ein historisches Archiv wie ein Stadtarchiv ist nicht einfach nur eine Sammlung alter Akten. Es ist vor allem eine systematische Sammlung historischer Unikate, also von Dokumenten, die es nur einmal und nur in diesem Archiv gibt. Als der Stadtarchivar Christian Altena und seine wenigen vor Ort gebliebenen städtischen Mitarbeiter erkannten, dass das Hochwasser die Archivbestände erreichen würde, begannen sie, die auf den unteren Böden der Rollregale gelagerten Archivkantons auf Treppen und das darüber gelegene Stockwerk umzuräumen. Sehr bald wurde allerdings klar, mit den wenigen Händen und der Schnelligkeit, mit der die Flut stieg, musste dies ein vergebliches Unterfangen bleiben. Also begannen sie, in größter Eile alle Archivkartons mit den historischen Akten, Plänen, Fotos und Negativen aus den bodennahen Regalböden auf die oberen Regalböden umzuschichten. Sie taten dies in der Hoffnung, dass das Wasser nicht allzu hoch steigen möge, und sie taten es bei aller Hektik methodisch: Das archivalisch Wertvollste zuerst.

Die Folgen des Hochwassers. Blick in eines der Archivmagazine des Stadtarchivs Stolberg. Foto: Christian Altena Die Folgen des Hochwassers. Blick iin eines der Archivmagazine des Stadtarchivs Stolberg. Foto: Christian Altena

Zunächst hatte man noch Strom und damit auch Licht. Dann fiel durch das Hochwasser die öffentliche Stromversorgung auch im Rathaus aus und die im benachbarten Keller befindlichen Notstromaggregate sprangen an, so dass man weiter umräumen konnte. Doch schon bald hörten die Archivretter, wie die Rolltore zu den Kellern des Rathauses dem Wasserdruck der Fluten nachgaben und zu bersten begannen.

An diesem Tag und in dieser Nacht versank nicht nur das Stolberger Stadtarchiv in den Fluten eines 10.000-Jahre Hochwassers. Die Fluten im Tal der Vicht stiegen auf Pegelhöhen wie sie historisch bisher noch nie aufgezeichnet worden waren und zerstörten in den Dörfern und Städten an in ihrem Verlauf alles an Inventar, technischer Infrastruktur und Fabrikationsanlagen, Gebäuden und beweglichem Gut, was nicht hoch genug lag und von der Flut erreicht werden konnte. Die beste Nachricht in dieser Nacht war der Umstand, dass in Stolberg zumindest keine Menschenleben zu beklagen waren wie an anderen Orten in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz.
Was macht ein Archivar in jener Nacht, in der das ihm anvertraute Archiv gerade wie die Titanic in den Fluten verschwunden ist und seine penibel erfassten und katalogisierten Archivalien von einer schmutzigen Brühe aus Wasser, Abwasser, Heizoel und kontaminiertem Schlamm verschlungen sind? Er denkt darüber nach, wie er sein untergegangenes Archiv retten und wiederherstellen kann. Wie gehen wir methodisch vor? Was brauchen wir an Personal und Ressourcen und woher bekommen wir es? Immerhin war nicht allein im Archiv am alten Rathaus in Stolberg Katastrophenhilfe zu organisieren: Mulartshütte, Zweifall, Vicht, Stolberg, Eschweiler – überall war Katastrophenhilfe vonnöten.

Doch zunächst galt es, sich einen Überblick zu verschaffen. Papier, Tinte, Karten, Fotos, Negative zusammen mit Wasser, Schlamm und irgendwelchen unbekannten chemisch-wirksamen Stoffen sind keine wirklich gute Kombination. Die Hochwasserbrühe zersetzt und löst auf. Also erster Schritt, das Wasser muss raus – mit Hilfe des Technischen Hilfswerks werden die Keller leergepumpt. Erst jetzt zeigt sich, dass die Magazinregale mit ihren Archivkartons nicht einfach im Wasser versunken sind. Akten sind schwer und die Regale gut gefüllt. Aber jetzt haben sich die Archivalien mit Wasser vollgesogen und ihr Gewicht mehr als verdoppelt. Für viele der Rollregale war diese Belastung zu schwer. Sie sind zusammengebrochen, eingeknickt oder haben sich verzogen. Das, was vorher wohlgeordnet und sortiert war, ist im Strom der Schlammfluten durcheinander- und übereinandergeschwemmt worden. Der Blick in die Magazine fällt auf ein schlammiges, stinkendes Tohuwabohu aus Einrichtung und Archivgut. Die ehemals übersichtliche Ordnung ist dahin. Und jetzt beginnt zudem ein weiterer Wettlauf gegen die Uhr: In spätestens 48 Stunden wird das durchnässte Archivgut zu schimmeln beginnen. Also muss es vorher geborgen, vorsichtig mit sauberem Wasser und mechanisch gereinigt werden, in Kunststofffolie eingepackt, wassersicher in einen Transportkarton gelegt, auf eine Palette gepackt und in ein Tiefkühllager gefahren werden, um dort bei minus 20 Grad Celsius gefroren, den Pilzbefall und den weiteren Verfall zu stoppen. Und auch hier gilt: Das Wichtigste zuerst!

Stadtarchiv Stolberg: Archivbergung. Foto: Christian Altena Stadtarchiv Stolberg: Archivbergung. Foto: Christian Altena

Die spannende Frage in dieser Situation ist aber nicht, was ist das Wichtigste? Das wissen der Archivar und seine Mitarbeiter. Die spannendste Frage im Chaos des Magazinkellers ist zumeist, wo ist das Wichtigste? Also räumen und schleppen eine Vielzahl von freiwilligen Helfern die Archivalien aus dem Keller zu den langen Reinigungstischen im Erdgeschoss des alten Rathauses und auf den Kaiserplatz. Durch soziale Netzwerke alarmiert und organisiert mühen sich bis zu dreihundert freiwillige Helfer, Kollegen aus anderen Archiven, Bundeswehrsoldaten und Technisches Hilfswerk um die Rettung der Stadtarchivbestände. Nicht alles wird man retten können. Aber das, was einzigartig ist und nicht verloren gehen sollte, das wird herausgeholt, gereinigt, verpackt und schließlich mit freiwilliger Hilfe einer Herzogenrather Spezialspedition auf mehr als 404 Europaletten in ein Troisdorfer Tiefkühllagerhaus verfrachtet. Tiefgefroren wartet dort das Archivgut darauf, Stück für Stück vakuum-gefriergetrocknet  und wiederhergestellt zu werden, um dann in ein neues, modernes und hochwassersicheres Stolberger Stadtarchiv umzuziehen.
Archive, vor allem Stadtarchive, sind eher selten im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Erst wenn sie von Katastrophen betroffen sind, wie beispielsweise der Einsturz des Stadtarchivs Köln,  richtet sich der öffentliche Blick auf diese Einrichtungen, ihre Dienstleistungen und ihre Bedeutung für die Institutionen, deren Geschichte und Erinnerungen sie bewahren. Und fragt man Christian Altena, den Leiter des Stolberger Stadtarchivs, was seine nachhaltigste Erinnerung an diese Katastrophe sei, dann antwortet er: „Es waren die freiwilligen Helfer, die sich unmittelbar nach der Katastrophe über die sozialen Netzwerke selbst organisiert und bei der Bergung und Rettung des Archivs über Tage bis an den Rand der Erschöpfung geholfen haben. Über alle Schäden und Verluste der Flut hinweg empfand ich diese spontane und vielköpfige Hilfe auch als Anerkennung der Bedeutung unseres Archivs und unserer Arbeit, wie wir sie im Alltag eher selten erfahren.“

Aus der spontanen Hilfe der Freiwilligen zur Rettung der Bestände des Stadtarchivs Stolberg  hat sich unmittelbar nach der Flutkatastrophe am 21. Juli 2021 ein  Förderverein Stadtarchiv Stolberg e. V. konstituiert. Neben der Wiederherstellung des geborgenen Archivgutes setzt sich der Förderverein für eine nachhaltige Entwicklung des Stolberger Stadtarchivs mit einem neuen, modernen und attraktiven Archivgebäude ein. Seine Aufgabe sieht der Verein darin, das Stadtarchiv aktiv in Forschung und Publikation Stolberger Geschichte zu unterstützen sowie in der Durchführung von Archiv- und  Bildungsarbeit.

Kontakt:
Email: foerderverein_stadtarchiv@gmx.org
Facebook: Förderverein Stadtarchiv Stolberg e. V.

vgl. hierzu auch den grundlegenden Artikel „Akten gehören nicht in den Keller!“ – Was haben wir eigentlich gelernt? in der Archivwelt, dem Archivwissenschaftlichen Blog der Archivschule Marburg von Stephanie Eifert